Euthanasie, Zwangssterilisationen und Aktion T4 waren für die Stralsunder nicht so präsent wie die Aktionen und Schmähungen gegen Juden und Mischlinge. Das lag zum einen daran, dass sich die 1912 eröffnete Provinzialheilanstalt weit vor den Toren der Stadt befand und zum zweiten an dem Fakt, dass die betreffenden Aktionen innerhalb kurzer Zeit erfolgten.
Bereits im Juli 1933 war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet worden, das die Möglichkeit einer zwangsweisen Sterilisation schuf und im Jahr 1934 wirksam wurde. In Stralsund wurden zwischen 1933 und 1939 372 Männer und 280 Frauen zur Sterilisation ins Städtische Krankenhaus eingewiesen. 3 von ihnen starben infolge der Operation. Die Verordnung zur Sterilisation erfolgte in zwei Dritteln der Fälle durch Ärzte der Heilanstalt; ein Drittel wurde durch den damaligen Stralsunder Amtsarzt eingewiesen.
Der Beginn des Zweiten Weltkrieges war gleichzeitig der Startschuss für konkrete Planungen zur Vernichtung aller nicht in das Idealbild des Nationalsozialismus passenden Bürger. Die Grundlage bildete die Ermächtigung durch Hitler vom Oktober 1939, „die Befugnisse … zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“1
Damit begann eine systematisch durchgeführte Massenvernichtungsaktion, die nach der Adresse der organisatorischen Zentrale im Tiergarten 4 als Aktion „T4“ bekannt wurde. Während man im Tiergarten noch mit den organisatorischen Vorbereitungen beschäftigt war, schuf der Gauleiter von Pommern, Schwede-Coburg, bereits Fakten.
Kurz nach Kriegsbeginn bot er Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS, die Gebäude der Provinzialheilanstalt als Kasernen an. Nach dessen Zustimmung, erteilte er den Befehl, die zum Transport in das westpreußische Neustadt (Wejherowo) vorgesehenen Kranken an einem geeigneten Ort zu erschießen. Das Auswahlkriterium: die „übelsten Kranken“.
Die Heilanstalt war zu diesem Zeitpunkt mit 1.160 Patienten belegt. Die Räumung begann am 17.11.1939. Drei Transporte mit je 100 Patienten (je 50 Frauen und 50 Männer) verließen Stralsund, kamen aber nie an. Die als „Verlegung nach Westpr. Anstalt“ getarnten Transporte endeten für die Menschen mit der Erschießung in den Wäldern von Piasnica bei Neustadt.
Bis Mitte Dezember 1939 folgten weitere sieben Transporte, bei denen 355 Personen (169 Männer und 186 Frauen) in die Anstalt Lauenburg, 226 (116 Männer und 110 Frauen) nach Ueckermünde und 279 (129 Männer und 150 Frauen) nach Treptow an der Rega kamen. Lauenburg folgte 1940 dem Stralsunder Beispiel. Nur gingen jetzt die Transporte in den Reichsgau Wartheland und die Betroffenen wurden vergast, nicht erschossen. Das gleiche Schicksal traf die Patienten der Heilanstalt Treptow a.R. Ledigich in Ueckermünde überlebten 10 Stralsunder Patienten die erste Euthanasie-Welle, weil sie auf einem Gut untergebracht oder in Familien gepflegt wurden.
Stralsund war Ende 1939 die erste geräumte Anstalt in Deutschland und übergab ihre Gebäude zur Nutzung an die Waffen-SS. Die im Frühjahr und Sommer 1940 anlaufende Aktion „T4“ war für Stralsund schon nicht mehr wirklich relevant.
Eine zweite Euthanasie-Welle begann im Spätsommer 1942, nachdem Hitler die Aktion „T4“ aufgrund des zunehmenden Protestes der Kirchen und unter der Bevölkerung im August 1941 stoppen musste. Diese zweite Planung forderte noch mehr Opfer als die gezielte Tötung bei der Aktion „T4“. Die Methoden und Täter hatten sich gewandelt, gemordet wurde jetzt innerhalb der Anstaltsmauern durch das Personal. Vorsätzlich herbeigeführte Erschöpfungszustände, Überdosierungen von Schmerz- und Betäubungsmitteln und chronische Unterernährung bei forciertem Arbeitseinsatz führten zu einer kontinuierlich hohen monatlichen Sterblichkeitsrate in den Einrichtungen, ohne dass dies in der Öffentlichkeit registriert wurde oder jemand Anstoß daran nahm. Die zweite Euthanasie-Welle traf Stralsund nicht mehr. Die ehemalige Heilanstalt wurde bis Kriegsende von der SS und das Marinelazarett genutzt.
1 Der Text und die Zahlenangaben basieren auf dem Artikel “Zwangssterilisation und Euthanasie in Pommern” von Dr. Armbruster und Prof. Dr. Freyberger, in: Trauma&Gewalt, 8. Jahrgang, Heft 4/201