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Die Stralsunder Synagoge

Das Toleranzedikt des schwedischen Königs von 1777 verbesserte die Lebensbedingungen für Juden in den schwedischen Territorien und führte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung in Schwedisch-Vorpommern. In der Folge vergrößerte sich die Zahl der in Stralsund und Umgebung lebenden Juden von 37 im Jahr 1759 auf 119 im Jahr 1784.

Im “Reglement vom 27. Mai 1782” wird den Juden zugestanden, “…in jeder für sie ausersehenen Stadt eine Synagoge zu errichten, auch einen Rabbiner nebst erforderlichen Bedienung zu halten.”. Die gleiche Verordnung erlaubte es den Juden jetzt, sich ein Haus und ein Grundstück zu erwerben. Auf der Grundlage dieser Gesetze kaufte die jüdische Gemeinde das unbebaute Grundstück in der Langenstraße 69.

Der Bau der Synagoge hatte eine Vorgeschichte, denn auf dem Hof besagten Grundstückes stand bereits ein provisorischer Synagogenbau, errichtet auf der Grundlage eines auf 10 Jahre ausgelegten privaten Vertrages mit dem Hausbesitzer, der für den Hauserwerb vormals einen Wechsel über 300 Taler der Gebrüder Lazarus und Joseph Moses verwendet hatte. Eine Klausel dieses Vertrages untersagte dem Hausbesitzer den Verkauf des Grundstückes auf 10 Jahre. Nach Anrufung der schwedischen Regierung seitens der Jüdischen Gemeinde wurde dieser der Kauf des Grundstückes genehmigt und der Rat angewiesen, diesen durchzuführen.

1786 wandte sich die Gemeinde an den Rat der Stadt mit der Bitte, die baufällige provisorische Synagoge durch einen Neubau ersetzen zu können. Nachdem die Erlaubnis erteilt worden war, begann der Umbau der an der Straße liegenden zwei Buden, die zum Grundstück gehörten und der eigentlichen Synagoge auf dem Hof. Sie unmittelbar an den Straßenrand zu setzen, war den Juden per königlichem Beschluss versagt worden. Die Religionsausübung durfte zwar “frei”, aber nicht “öffentlich” erfolgen.

1944 fotografiert

Ende März 1787 erfolgte die feierliche Einweihung der neuen Synagoge und die Umbenennung der Jüdischen Gemeinde in „Synagogengemeinde Stralsund“. Die Synagoge nahm nicht nur die Juden Stralsunds auf, sondern auch die des umliegenden Kreises, inkl. Rügens. Hinsichtlich ihrer Größe und Ausstattung war sie eher schlicht gehalten, besaß aber das für traditionsbewusste Juden unbedingt notwendige Bad. Nach einer langen Periode sinkender Mitgliederzahlen in der Synagogengemeinde begann deren Zahl nach 1850 mit der Durchführung von allgemeinen Reformen in Preußen wieder anzusteigen und erreichte Ende 1887 den Wert von 169 Personen1.

Nach 25 Jahren (1913) machte sich eine Sanierung und Erweiterung2 des Gebäudes notwendig, bei der zwei Anbauten errichtet, die Fenster und der Dachstuhl erneuert und eine Zentralheizung eingesetzt wurden. Nach Beendigung der Arbeiten wurde die Synagoge am 28. Juli 1913 wieder eingeweiht. 200 Plätze standen nun der Gemeinde zur Verfügung. Einer der geladenen Gäste zur Einweihung war der damalige Oberbürgermeister Stralsunds, Ernst Gronow. In seinem Grußwort äußerte er die Hoffnung, „…daß unsere jüdischen Mitbürger so wie bisher in dieser Stadt mit ihren christlichen Mitbürgern in Frieden und Eintracht leben mögen“3.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten war davon nicht mehr die Rede. Durch die nationalsozialistischen Gesetze und Repressalien zur Geschäftsaufgabe und Flucht getrieben oder abgeschoben, verringerte sich die Zahl Stralsunder Juden von 134 – mosaisches Glaubensbekenntnis als Definitionsgrundlage – im Jahr 1933 auf 62 – nach nationalsozialistischer Definition – im Jahr 19394.

Ein erschütterndes Erlebnis für die Juden Stralsunds war die am Morgen des 10. Novembers brennende Synagoge. Ein Gemeindemitglied der 1930er Jahre und Überlebender des Holocaust, Kurt Zimmerspitz, erinnert sich in seinen Briefen an den Stralsunder Eberhard Schiel lebhaft an diesen Morgen5.

Die Synagoge brannte aus und der Rat der Stadt kaufte sie Anfang 1939 für 12.000 Reichsmark6, um sie dann der Technischen Nothilfe zur Nutzung zu übergeben. Die schwersten Schäden erlitt sie im Oktober 1944 beim Bombenangriff auf Stralsund. Nach dem Krieg bemühte sich der Vorbereitende Ausschuss zur Bildung Jüdischer Kulturvereinigungen Mecklenburgs um die Rückübertragung von Grundstück und Gebäude an die zu bildende jüdische Gemeinde Stralsunds. Dazu kam es aber nicht, denn eine jüdische Gemeinde gab es in Stralsund nicht mehr. Nur 6 Juden7 hatten die NS-Zeit in Stralsund überlebt. Am 27. Juni 1949 wurde das Grundstück der Jüdischen Landesgemeinde Mecklenburg mit Sitz in Schwerin übergeben, die wiederum aufgrund ihrer geringen Mitgliederzahl und Finanzkraft bei der Stadtverwaltung anfragte, ob sie am Erwerb der Parzelle interessiert sei. Nach Begutachtung lehnte die Stadtverwaltung ab und teilte der Jüdischen Landesgemeinde Mitte 1950 mit, dass die Ruine aus baupolizeilichen Gründen abgerissen werden muss. Um die Jüdische Landesgemeinde von den Abrisskosten zu befreien, zu denen sie die Landesverordnung verpflichtete, schlug die Stadtverwaltung vor, dem Abrissunternehmen die Baustoffe als Bezahlung zu überlassen. Die zu diesem Zeitpunkt laufenden Verkaufsgespräche zwischen Jüdischer Landesgemeinde und Kaufinteressenten wurden seitens der Stadt nicht als Aufschiebungsgrund akzeptiert. Die Stadt baute immer mehr Druck auf und verhinderte so einen Verkauf von Grundstück und Gebäuderest. Im Herbst 1950 forderte sie die Jüdische Landesgemeinde zum sofortige Abriss auf, da herabstürzende Bauteile bereits das Nachbargebäude bedrohten. Die Jüdische Landesgemeinde gab auf und stimmte dem Gebäudeabriss unter Überlassung der Baustoffe zu.

1951 wurde der Abriss vollzogen und die jüdische Synagoge, die von der Generation der Großeltern mit persönlichen Opfern und voller Stolz erbaut worden war, war Geschichte geworden. Ein Jahr später erbaute man das jetzige Haus Lange Straße 69 und entsprechend der Baugesetzgebung wurde es an die gesamte Straßenlänge gesetzt. Nichts kündete mehr von der Synagoge und das für viele Jahre.

Erst im Frühjahr 2009 brachte man an diesem Gebäude eine Erinnerungstafel an; gestiftet von der Bundeskanzlerin Angela Merkel, im Beisein des Landesrabbiners William Wolff.

28.04.2009

Diese Messingplakette wurde kurz vor dem Gedenktag an die Pogromnacht 2009 von Rechtsextremen gestohlen und im Strelasund versenkt. Die Bürgerschaft bemühte sich, die Tafel schnellstmöglich zu ersetzen. Auch wenn Taucher der Freiwilligen Feuerwehr die ursprüngliche Tafel später wiederfanden, blieb die neue an ihrem Platz, denn in ihrer Kernaussage sind beide gleich:

Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern. Aber man kann dafür sorgen, dass sie nicht wieder vorkommen.“

Anne Frank, 7. Mai 1944

Quellen:   

  1. Stadtarchiv Stralsund, NHöw104, Nachlass Heinz Höwing: 200 Jahre „Synagogengemeinde Stralsund“ 
  2. Wolfgang Wilhelmus: Juden in Vorpommern im 19. Jahrhundert, in: H. Heitmann/J.H.Schoeps (Hrsg.), Halte fern dem Land jedes Verderben…, Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Georg Olms Verlag, 1995, Hildesheim, Zürich, New York  
  3. Wikipedia, Die Geschichte der Stralsunder Synagoge, unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Stralsund, abgerufen am 18.05.2021      
  4. Stralsund, unter: www.jüdische-gemeinden.de               
  5. Arndt: Geschichte der Stralsunder Juden, Manuskript, Stralsund-Museum
  6. Briefe ehemaliger Stralsunder Juden an Eberhard Schiel, Privatsammlung Eberhard Schiel

Jüdische Friedhöfe Stralsunds

Der 1776 angelegte jüdische Friedhof in Niederhof / Brandshagen

Jüdische Friedhöfe sind heute oft einzige sichtbare und zugängliche Zeugen einstigen jüdischen Lebens. Juden, bedingt durch die Anfeindungen ihrer Umgebung ruhelos in den Wirrnissen der Jahrhunderte umherziehend, suchten zumindest für ihre Verstorbenen eine dauerhafte Heimat.

Aufgrund der wechselvollen Geschichte der Juden mit Vertreibungen aus den Städten wurden in der mittelalterlichen Zeit auch die Stätten der Toten verwüstet. Friedhöfe aus der Zeit sind in Stralsund nicht überliefert. Jüdische Grabsteine fanden nicht selten Verwendung für andere Bauten, für Stadtmauern und selbst für Kirchen.

Die aus Kalkstein gefertigten Grabdenkmäler des jüdischen Begräbnisplatzes in Niederhof bei Brandshagen sind, dem Einfluss des Klassizismus folgend, von einer einfachen, klaren Formgebung und zeigen nur gelegentlich einen überwiegend aus stilisierten Ranken bestehenden Schmuck. Sie unterscheiden sich mit ihrer strengen Gestaltung deutlich von den christlichen Grabsteinen jener Zeit. Die offenbar von wenig erfahrenen, nichtjüdischen Steinmetzen in hebräischer Schrift eingemeißelten Texte enthalten neben dem Namen, Sterbe- und Begräbnistag des Toten auch einige lobende Beiworte für den Verstorbenen sowie Segenssprüche. Seltener sind ausführliche Äußerungen über das Leben und Wirken des Beigesetzten. Die geschichtlich bedeutsamste Inschrift befand sich auf dem leider inzwischen zerstörten Grabstein des 1792 verstorbenen Rabbi Zewi Hirsch.

Bei jüdischen Beerdigungen ist es üblich, die Toten in West-Ost-Richtung zu bestatten. So befinden sich auch bei den reihenförmig angelegten Gräbern auf dem Niederhofer Friedhof die Denksteine an der Kopfseite.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde aus der christlichen Friedhofskunst der Sockel unter dem Grabstein übernommen. Der Obelisk setzte sich als Grabsteinform durch, ebenso die deutsche Beschriftung der Grabmäler. Wir finden diese Art der Grabgestaltung auf dem Jüdischen Friedhof in Stralsund.

Anfänglich erfolgten die Judenbestattungen in Ermangelung eines stadtnahen Begräbnisplatzes in dem mecklenburgischen Ort Sülze, zuweilen auch in Ribnitz.

Nachdem der Rat der Stadt es abgelehnt hatte, innerhalb der Ringmauern Stralsunds einen würdigen Friedhof für die Juden zur Verfügung zu stellen, richtete der humanistisch gesinnte Kammerrat Joachim Giese ab 1776 in seinem Gutspark in Niederhof unentgeltlich einen Begräbnisplatz ein, welcher der einzige in Schwedisch-Vorpommern blieb. Er befindet sich in der Nordwestecke des Parks in unmittelbarer Nähe eines runden, beidseitig mit Bäumen gesäumten Walles, der früher als Reitbahn diente. In der schwedischen Matrikelkarte ist an dieser Stelle die „Witte Schantz“, eine 1678 im schwedisch-brandenburgischen Krieg entstandene Befestigung eingetragen.

Trotz mehrfachen Besitzerwechsels des Gutes Niederhof fanden bis 1855 Beerdigungen auf dem Judenfriedhof statt. Vor dem ersten Weltkrieg zählte man 60 Grabsteine. Infolge Zerstörung und Ausgrabung – mehrere Grabdenkmäler fanden in Niederhof als Trittstufen vor den Häusern Verwendung – traten im Laufe der Zeit Lücken in die reihenförmig angelegten Gräber. Die Zeit des Nationalsozialismus überstand der Friedhof ohne jegliche organisierte Zerstörung. 1955 existierten noch 38 Grabsteine, 19 davon gut erhaltene; der Rest zeigte mehr oder weniger starke Spuren der Beschädigung. Im Sommer 1997 befanden sich auf dem inzwischen völlig bewaldeten Begräbnisplatz noch 28 jüdische Grabmale. Nur ein erhaltener Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Niederhof trägt figürlichen Schmuck. In einem Halbrelief sind zwei segnende Hände mit Schüssel und Wasserkanne darüber dargestellt. Die segnenden Hände stehen als Symbol für das dem Stamme Levi angehörende Geschlecht der Aaroniden, welche nach der alttestamentlichen Überlieferung die Kohanim (Priester) für den Jerusalemer Tempel stellten, während die übrigen Geschlechter der Leviten die niederen Tempeldienste versahen. Das Stammeszeichen der Leviten besteht aus Kanne und Schüssel. Da der Verstorbene nur einem Stamm angehört haben kann, bleibt die Vereinigung beider Symbole ein Geheimnis dieses Niederhofer Grabsteines.

Das Grabmal für den Vorsteher des jüdischen Lehrhauses Greifswald, Mordechai, trägt folgende Inschrift:

Hier wurde begraben ein rechtschaffener Mann, der Gott fürchtete, ein gerechter Priester aus dem Glanz der Diaspora, der ergriffen hat das Licht, gewandelt ist auf dem rechten Wege und beständig war in seiner Gerechtigkeit bis zum Tag seines Todes. Gerechtigkeit aber übte er zu jeder Zeit nach Art und Weise der Ewigkeit….Der Vorsteher des Lehrhauses Mordechai… Zum Segen sei sein Angedenken!…“

Im Jahre 1999 wurden die Grabsteine gereinigt, so dass die Inschriften wieder lesbar sind.

Quelle: Angela Pfennig: Backstein und Grün, edition herre, 2003 

Quelle: Stadtarchiv Stralsund, Höw87, 1960-1986

Quelle: Stadtarchiv Stralsund, Höw87, 1960-1986

Neuer Friedhof, Greifswalder Chaussee

Infolge der nach den Napoleonischen Befreiungskriegen eingetretenen Verbesserung der rechtlichen Stellung der Juden – sie wurden in beschränkter Anzahl zur Belebung des stagnierenden Handels geduldet – gelang es 1850 der Stralsunder Jüdischen Gemeinde, mit Genehmigung des Rates von einem Ackerbürger ein kleines Feldstück an der Greifswalder Chaussee zu erwerben. Dieses mit Mauern umgebene und 1912 erweiterte Gelände diente nahezu ein Jahrhundert als Friedhof.

Durch das 1938 erlassene „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“1 verloren die Synagogengemeinden und jüdischen Verbände ihre Stellung als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Eine jüdische Gemeinde existiert seitdem nicht mehr in Stralsund. Im Jahre 1942 kam es im Rahmen der „Entjudung des deutschen Volksvermögens“ zum Verkauf des Jüdischen Friedhofes an die Stadtgemeinde. Für die Beisetzung der noch in Stralsund verbliebenen Juden wurde im gleichen Jahr ein 175m kleines Geländestück auf dem Neuen Frankenfriedhof bereitgestellt. Der Jüdische Friedhof blieb hinfort seinem Schicksal überlassen und verwahrloste.

Mitte der 50er Jahre wurde der Friedhof auf Initiative der Stadt zu einer Gedenkstätte umgestaltet.

Der heutige Besucher des kulturpolitisch bedeutsamen Jüdischen Friedhofes2 findet einen ummauerten, von Rasen bedeckten und mit wenigen Bäumen umrahmten Begräbnisplatz vor. Die Torpfeiler des Eingangs zeigen einen Davidstern im Mauerwerk. Ein umlaufender Weg führt an den entlang der Mauer aufgestellten Grabsteinen vorbei. Der älteste Grabstein stammt aus dem Jahr 1855.

Erwähnt seien die Gräber der weitverzweigten Familie des Warenhausgründers Abraham Wertheim sowie der Grabstein für das Ehepaar Guttmann mit dem Gedenkspruch des Sohnes

Sie starben weil sie Juden waren“.

Seit 1997 befindet sich der Friedhof im Besitz des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Tafel am Eingang verweist auf die Geschichte der Juden in Stralsund.

Quelle: Angela Pfennig, Backstein und Grün, edition herre, Stralsund, 2003

1 Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Körperschaften“ vom 28.03.1938, veröffentlicht in: Reichsgesetzblatt I 1938, S. 338 

2 Unter Nr. 292 eingetragenes Denkmal der Stadt Stralsund, siehe www.stralsund.de/Verwaltung/denkmalliste.pdf

Warenhäuser Wertheim und Tietz

Ein kurzer Überblick zu Enteignungen von Warenhäusern und jüdischen Unternehmen am Beispiel Stralsunds

Nadine Garling

Stralsund kann mit der Gründung der ersten Einzelhandelsgeschäfte von Georg und Hugo Wertheim sowie von Leonhard und Flora Tietz in den 1870-er Jahren und ihrer Einführung völlig neuer Verkaufsprinzipien als Wiege der Warenhäuser in Deutschland bezeichnet werden. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden dann auch hier wie zuvor in Berlin, Köln und anderen Großstädten moderne Warenhäuser eröffnet, die noch heute in der Ossenreyerstraße zu finden sind.

Neben den beiden Warenhäusern von Wertheim und Tietz bestanden in Stralsund vor 1933 noch weitere von jüdischen Kaufleuten geführte Unternehmen wie das Bekleidungsgeschäft der Familie Cohn, die Lederhandlung der Brüder Blach oder die Papier-, Buch- und Büromaschinenhandlung von Hermann Gerson sowie weitere kleine Läden, in denen die Geschäftsinhaber oft Handel mit unterschiedlichen Waren führten.1

Am 1. April 1933 – nur wenige Wochen nach der Machtübergabe – initiierten die Nationalsozialisten einen ersten deutschlandweiten Boykott jüdischer Geschäfte und Warenhäuser. Damit begann die systematische Verfolgung, materielle und soziale Enteignung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung auch in Stralsund. Auf Fotografien des Aprilboykotts, die direkt im Wertheim-Gebäude aufgenommen wurden und die Ossenreyerstraße zeigen, sind SA-Leute mit Schildern und folgenden Aufschriften zu erkennen: „Deutsche, kauft nicht im Warenhaus“ und „Deutsche Hausfrau, kaufe deutsch, meide das Warenhaus!“. Abb.

Vor allem gegen die Warenhäuser führten die Nationalsozialisten massive Propaganda und erwirkten zu einem frühen Zeitpunkt deren Enteignung und die Entlassung jüdischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Bereits im März 1933 wurde von Alfred Leonhard Tietz damit begonnen, den Vorstand und den Aufsichtsrat in der Kölner Firmenzentrale so umzubilden, dass die Gremien jeweils zu 50 Prozent mit jüdischen und nichtjüdischen Mitgliedern besetzt waren. Der Geschäftsführer und älteste Sohn von Leonhard Tietz zog sich aus dem Vorstand zurück. Bereits ab Juli 1933 firmierte die Leonhard Tietz AG dann unter Westdeutsche Kaufhof AG mit Abraham Frohwein als neuem Aufsichtsratsvorsitzenden. Die letzten Tietz-Familienmitglieder verkauften ihre Aktien unter Wert und schieden Ende September 1934 aus dem Unternehmen aus. Alfred Leonhard Tietz floh mit seiner Familie aus Deutschland über Holland nach Palästina, wo er 1941 verstarb.2

Georg Wertheim in Berlin übergab 1934 sein gesamtes Vermögen seiner nichtjüdischen Frau Ursula, die es daraufhin von einem Banken-Konsortium verwalten ließ. Der Firmengründer wurde immer weiter aus seinem Unternehmen gedrängt, bis er zu Beginn des Jahres 1937 in seinem Tagebuch den „Austritt aus dem Geschäft“ vermerkte.3 Das Familienunternehmen A. Wertheim wurde kurz darauf in den Konzern AWAG (Allgemeine Warenhaus Aktien-Gesellschaft) umgewandelt und bestand unter dem neuen Namen auch in Stralsund weiter, wie eine Fotografie der Ossenreyerstraße aus dem Jahr 1942 zeigt.4Abb.

Zwischen 1933 und 1939 wurden die jüdischen Bürger und Bürgerinnen mit immer mehr Verordnungen aus der Wirtschaft verdrängt. Dazu zählten Berufsverbote, die Kennzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe und verschiedene Boykottmaßnahmen, die am 9. und 10. November 1938 zur Plünderung und Zerstörung nicht nur von Synagogen, sondern auch von jüdischen Geschäften sowie zu Verhaftungen führten. Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ wurden die letzten zu dem Zeitpunkt noch verbliebenen Betriebe jüdischer Inhaber zwangsaufgelöst und von damit beauftragten Bücherrevisoren und Altwarenhändlern abgewickelt und die Grundstücke veräußert.

In Stralsund wurden außerhalb der Warenhäuser Wertheim und Tietz, dem Bekleidungsgeschäft der Familie Cohn und der Fischkonservenfabrik S. Cassel wenige Einzelhandelsgeschäfte „arisiert“, das heißt den jüdischen Besitzern entzogen, von nichtjüdischen Käufern weit unter Wert erworben und unter neuem Namen direkt weitergeführt.5 In der Regel wurden die kleineren Geschäfte vor Ort aufgelöst und deren Einrichtung und Lagerbestände zu sehr günstigen Preisen an Stralsunder Betriebe und Einrichtungen weiterverkauft, die damit ihre Warenlager und Verkaufsregale füllten und an ihre Kunden mit Gewinn weiterverkauften.

Die ihrem Betrieb, ihrem persönlichen Besitz und ihrer Lebensgrundlage beraubten Menschen versuchten noch, von dem geringen Erlös zu leben oder ihre Auswanderung vorzubereiten, bis kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges auch diese Möglichkeit erlosch und Millionen Juden in ganz Europa verschleppt, ghettoisiert und ermordet wurden. Versuche der Überlebenden oder ihrer Nachfahren nach dem Krieg, in der Bundesrepublik zumindest einen Teil des Familienbesitzes zurückzuerlangen, führten oft zu zähen und langwierigen Entschädigungsverfahren, in denen sich die Kläger in der Rolle von Bittstellern wiederfanden und die Enteignungen ihres Besitzes und das ihnen zugefügte Leid in Listen und Erklärungen belegen mussten. Die DDR-Regierung hatte es gänzlich abgelehnt, jüdisches Privatvermögen zu restituieren oder Schadensersatz zu zahlen, weshalb Entschädigungsverfahren hier erst mit jahrzehntelanger Verzögerung in den 1990-er Jahren möglich wurden.

1 Insgesamt waren es in Stralsund: 3 Altwarenhandlungen, 1 Buchhandlung,1 Büromaschinenhandlung und Reparaturwerkstatt, 1 Fischkonservenfabrik, 1 Fotografengeschäft, 1 Gastwirtschaft, 1 Getreide-, Futter-, Düngemittel- und Sämereienhandlung, 1 Herrenartikelgeschäft, 2 Holz-und Kohlehandlungen, 1 Kartoffelflockenfabrik, 2 Lederhandlungen, 7 Manufakturwaren- und Konfektionsgeschäfte, 1 Möbelfabrik, 1 Papierhandlung, 1 Pfandleihe, 4 Produktenhandlungen, 3 Schuhwarenhandlungen und 2 Warenhäuser. Diese Geschäfte wurden von 25 jüdischen Kaufleuten betrieben, vgl. Katrin Möller, Die Arisierung jüdischen Besitzes in Stralsund, Magisterarbeit an der Universität Greifswald, 2003.

2 Die Nachkommen der Familie von Alfred Leonhard Tietz wurden in einem Vergleich Anfang der 1950er Jahre mit einer Summe von insgesamt 5 Mio DM entschädigt. Siehe Kaufhof-Warenhaus AG (Hg), Erlebniswelt Kaufhof. Ein Warenhaus in Deutschland, Köln, 2001, S.128

3 Simon Ladwig-Winters, Die Wertheims. Geschichte einer Familie, 2. Auflage, Reinbeck 2008, S. 309

4 Zum Entschädigungsverfahren nach 1945 sowie zur staatlichen Enteignung der Grundstücke in der sowjetisch besetzten Zone vgl. ebenda, S. 337-345

5 Zu der Firma S. Cassel und zu dem Knaben- und Herrenbekleidungsgeschäft von Familie Cohn vgl. Möller, S. 63-57

Liste der Namen und Daten des Jüdischen Friedhofs Stralsund

Lageplan der Gräber
Gräberreihenfolge-Namen-mit-Daten-in-