Zeitzeugen
Zwischen 1934 und 1939 verließen mehr als die Hälfte der Stralsunder Juden* die Stadt und siedelten in deutsche Großstädte über bzw. gingen ins Ausland. Bei den in Deutschland bleibenden Stralsunder Juden handelte es sich nach jetzigem Erkenntnisstand in erster Linie um Einzelpersonen (Amalie Wagner, Else Michael, Max Philipsborn), in „priveligierter Mischehe“ lebenden Männern (Carl-Philipp Blach, Paul Samuel Blach, Friedrich Blach, Fritz Löwenstein, ) und Minderjährigen (Werner Hirsch, Oskar Löwenstein de Witt).
Da sie durch den Bevölkerungszensus von 1933 im Deutschen Reich erfasst waren, wurden sie seit 1938 systematisch zur Zwangsarbeit herangezogen. Im Februar 1943 verhaftete die Gestapo diese Gruppe jüdischer Personen. Unter ihnen befanden sich aus Stralsund: Carl-Philipp Blach, Fritz und Oskar Löwenstein de Witt, Werner Hirsch.
Der nachfolgend zitierte Artikel zeigt die Hintergründe, den Verlauf und die Lösung dieser Protestaktion auf.
http://www.berlin-judentum.de/denkmal/rosenstrasse.htm , 08.02.2021, Frauenprotest in der Rosenstrasse – 27. Februar 1943: Mythos und Wirklichkeit der „Fabrikaktion“.
Am Samstag den 27. Februar 1943 wurden einige tausend Juden, die noch als Zwangsarbeiter – meist in Rüstungsbetrieben – eingesetzt waren, an ihren Arbeitsplätzen verhaftet (daher auch die Bezeichnung „Fabrik-Aktion“). Sie sollten durch polnische Zwangsarbeiter (sogenannte „Ostarbeiter“) ersetzt werden und wurden auf Lastwagen getrieben und in unterschiedliche Sammellager gebracht. Diejenigen unter ihnen, die mit nicht-jüdischen Partnern verheiratet waren – also in sogenannten „Mischehen“ lebten – oder auch Jugendliche, die einen jüdischen Elternteil hatten und auch ab dem 14. Lebensjahr Zwangsarbeit leisten mußten, wurden in das Verwaltungsgebäude in der Rosenstrasse gebracht.
Die nicht-jüdischen Partner – überwiegend Frauen – erfuhren auf unterschiedlichen Wegen von der Gefangennahme ihrer Partner bzw. Kinder. Sie kamen in die Rosenstraße um sich über deren Verbleib zu informieren, Brotpäckchen zu hinterlassen … Daraus entwickelte sich ein einwöchiger Protest. Selbst als Maschinengewehre aufgebaut wurden, konnte dies die Frauen nicht veranlassen, ihren Widerstand zu beenden. Nach einer Woche wurden die Gefangenen aus der Rosenstraße freigelassen.
* Das heißt in diesem Fall: in Stralsund geborenen Juden.
Der Begriff „Aktionsjuden“ bezieht sich auf die Juden, die nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 durch Polizei und NSDAP verhaftet und größtenteils in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald gebracht wurden. Der Begriff bezieht sich auf die „Aktion Rath“, einen Namen, den der Pogrom in Anspielung an seinen Anlass – das Attentat auf den deutschen Diplomaten vom Rath – erhielt. Am 16. November 1938 endeten die Verhaftungen.
Das Ziel dieser Aktion war die Einschüchterung von Familienvorständen, besonders wohlhabender jüdischer Familien, um sie zur Auswanderung und zum schnellstmöglichen, deshalb unter Wert, Verkauf ihres Besitzes zu veranlassen. Auf diese Weise sollte die „Arisierung“ , d.h. die Zwangsenteignung jüdischer Geschäfte und jüdischen Besitzes vorbereitet und beschleunigt werden.
Für Stralsund ist die Inhaftierung von circa 24 Personen bekannt: u.a. Gerhard und Felix Gerson, Gustav Zimmerspitz, Martin, Max, Hugo und Siegbert Cohn, Eugen Liebenthal, Max Israel und Luise Kotljarski, Simon Lemke, Salomon und Pinkus Paul Eckdisch, Josef Rotenberg und seine Familie, Isidor Lewkowitz, Friedrich-Wilhelm Philipsborn.
Die Frauen und die Kinder wurden bereits am nächsten Tag auf Befehl wieder entlassen. Am 16. November 1938 durften auch Kranke und die über Sechzigjährigen nach Hause.
Im Falle der Stralsunder Juden wurden alle restlichen in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Man schätzt die Gesamtzahl aller zu diesem Zeitpunkt in Sachsenhausen internierten Aktionsjuden auf 6.000. Nicht alle in Sachsenhausen internierten Juden überlebten. 80 bis 90 von ihnen starben durch Suizid, Krankheit, Erschöpfung und Unterernährung. Von den Stralsunder Juden war keiner unter diesen Toten.
Die große Masse der Verhafteten kam bis zum Jahresanfang 1939 wieder frei. Am 01. Januar 1939 gab es in Sachsenhausen noch 958 inhaftierte „Aktionsjuden“. Befehle regelten die stufenweise Freilassung der Gefangenen. Am 28. November 1938 durften die unter sechzehnjährigen Jugendlichen nach Hause; ab dem 12. Dezember 1938 dann die über Fünfzigjährigen und kurz vor Weihnachten die jüdischen Lehrer. Wer dem Druck nicht standhielt, seinen Besitz verkaufte, sich zur Scheidung von seinem nichtjüdischen Ehepartner verpflichtete, bereits ein Ausreisevisum besaß oder seine Ausreise arrangierte, hatte große Chancen, sofort frei zu kommen. Aber eine Gewissheit über das eigene Schicksal bestand nie. Das änderte sich auch nach der Haftentlassung nicht mehr. Für viele waren besonders die Spätfolgen der Haft gravierend.
(Zitiert nach: Regina Fritz, Eine frühe Dokumentation des Holocaust in Ungarn. Die »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (1945), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 14 (2017), H. 2, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2017/5496, DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.4.974, Druckausgabe: S. 352-368., abgerufen am 28.01.2021)
Am 12. April 1945, acht Tage nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Staatsgebiet verlassen hatten, erschien Frau S. In den Räumlichkeiten der kurz zuvor gegründeten „Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen“. Sie gab ein Gewaltverbrechen zu Protokoll, welches sich drei Monate vorher im Jüdischen Krankenhaus in der Budapester Maros-Straße ereignet hatte: „Am 12. Januar 1945 erschienen Pfeilkreuzler im Krankenhaus, verstellten die Ausgänge und sammelten die Kranken, die Ärzte und das Personal in der Eingangshalle im Erdgeschoss zusammen. Zuerst haben sie uns alle Wertgegenstände abgenommen, danach mussten sich die Frauen und Männer bis auf die Unterwäsche ausziehen. Wer zu sprechen wagte, wurde mit einem Gummiknüppel geschlagen. Eine alte Frau um die 90 hörte schlecht und verstand die Befehle der Pfeilkreuzler nicht. Sie wurde an den Haaren hergeschleift. Danach mussten wir uns hinknien, unsere Arme hinter dem Kopf verschränken. […] Anschließend wurden wir paarweise in den Hof geführt […]. Dann begannen die Hinrichtungen paarweise[…] Die Hinrichtungen fanden gegenüber der Küche, neben der Senkgrube, vor dem Schuppen statt.“ Dass Frau S. überleben konnte, verdankte sie einer Täuschung: Es gelang ihr, die Pfeilkreuzler davon zu überzeugen, dass sie keine Jüdin sei. Auch der Umstand, dass sie einen drei Monate alten Säugling bei sich hatte, dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die Täter sie verschonten, während der Großteil der restlichen Patientinnen und Patienten sowie Angehörige des Krankenhauspersonals (insgesamt mehr als 90 Personen) umgebracht wurden.
Über diese Mordaktion, eines der größten Massaker, die kurz vor Kriegsende in der ungarischen Hauptstadt von Pfeilkreuzlern aus dem Parteilokal im 12. Bezirk verübt wurden, sammelte die „Verbrechens-Kommission“ seit Anfang April 1945 Aussagen. Sie war bestrebt, nicht nur den Ablauf der Ereignisse genau zu rekonstruieren, sondern auch jenen Ort zu identifizieren, an dem die Opfer des Gewaltverbrechens verscharrt worden waren. Die Hinweise von Frau S. und anderen Zeugen bzw. Überlebenden des Massakers waren schließlich ausschlaggebend dafür, dass die Exhumierungen im Garten des Krankenhauses im Beisein des Vizebürgermeisters von Budapest, von Angehörigen, Ärzten, Vertretern ungarischer und sowjetischer Behörden, darunter Mitgliedern der „Verbrechens-Kommission“ und in Anwesenheit eines Teils jener Pfeilkreuzler, die für die Morde verantwortlich gemacht wurden, am 23. April 1945 beginnen konnten: „Aus dem Massengrab kamen 84 Leichen zum Vorschein, und zwar 40 Männer und 44 Frauen. Im Rahmen der Identifizierung wurde der Großteil von seinen Angehörigen erkannt“, berichtete am 26. April 1945 einer der Mitarbeiter der Kommission.